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Aus meine zeit ist mein leben
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Einleitung

Die Arbeitstätigkeit der Beschäftigten in den Unternehmen hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten wesentlich verändert – in diesem Punkt herrscht allgemeine Übereinstimmung. Große Unterschiede gibt es jedoch bei den Experten, wenn es um die folgenden Fragen geht: Was sind die Ursachen dieser Veränderung? Wer oder was ist ihr Motor? Richtet sich diese Veränderung auf eine Zukunft und wenn ja, auf welche?

Das unternehmerische Wir gibt eine bestimmte Antwort auf diese Fragen. Ausgangspunkt dieser Antwort ist eine neue produktive Kraft der Beschäftigten, der sich die Unternehmen durch veränderte Steuerungsformen anpassen. Dabei nutzen die Unternehmensleitungen besondere Mechanismen, um ihre Profitabilität zu steigern – sie überlassen die Unternehmerfunktion mehr und mehr den Beschäftigten. Diese Mechanismen werden hier den Untersuchungen von Klaus Peters und Wilfried Glißmann folgend als »indirekte Steuerung« begriffen. »Indirekt« wird diese Steuerung genannt, weil nicht mehr direkt per »Befehl und Gehorsam« gesteuert wird, sondern mittelbar dadurch, dass man so genannte Umwelten schafft und Rahmenbedingungen setzt, mit denen sich die Beschäftigten gemeinsam unternehmerisch auseinandersetzen. Dabei wird die unternehmerische Verantwortung – so die These – nicht in erster Linie an einzelne Beschäftigte, sondern an Teams, teilautonome Unternehmenseinheiten und Profitcenter übergeben – an ein »unternehmerisches Wir« also.

Doch wie funktionieren die Mechanismen der indirekten Steuerung? Und wie wird sichergestellt, dass die Beschäftigten gemeinsam im Sinne des Unternehmens handeln? Zunächst zeigt sich die indirekte Steuerung in einem veränderten Führungsverhalten: Führungskräfte sollen den Beschäftigten heute die unternehmerische Verantwortung nicht mehr abnehmen. Stattdessen müssen Führungskräfte Teamprozesse durch Modifikation der Rahmenbedingungen zu steuern lernen. Eine solche Steuerung ist möglich, weil die Teamprozesse den Beteiligten unbewusst sind und es auch bleiben sollen. Wie stellen sich die Mechanismen des unternehmerischen Wir in der Teamarbeit dar? Wie erarbeiten sich Team-Mitglieder gemeinsam, was die einzelnen Kolleginnen und Kollegen zu tun haben, und wie setzen sie sich gegenseitig unter Druck? Wie gelingt es den Teams, gemeinsam als Wir die Unternehmerfunktion wahrzunehmen und dafür zu sorgen, dass ich, du, er, sie – dieselben Wir als Einzelne – das dafür Erforderliche tun?

Ein Schlüssel für das Verständnis dieser Fragen stellt die Kritik der Arbeits- und Organisationspsychologie dar. In dieser Wissenschaft wird seit den 1940er Jahren erforscht, unter welchen Bedingungen die Beschäftigten in Teams profitabel arbeiten. Durch das Verständnis der Theorien der Arbeits- und Organisationspsychologie wird sichtbar, wie es Unternehmensleitungen gelingt, die Mechanismen der indirekten Steuerung so zu nutzen, dass sie für die Beschäftigten unbewusst bleiben. Sie instrumentalisieren dafür gruppendynamische Prozesse, die »von selbst« funktionieren und durch Druck auf die Teams intensiviert werden.

Die Unbewusstheit der Mechanismen äußert sich auch darin, dass die Beschäftigten von selbst ihre Arbeitszeit über das gesundheitlich zuträgliche, gesetzlich erlaubte und tariflich vereinbarte Maß verlängern. Für betriebspolitische Initiativen von Gewerkschaften und Interessenvertretern ist daher im ersten Schritt entscheidend, die unbewussten Prozesse der indirekten Steuerung bewusst zu machen. Dadurch werden die Beschäftigten selbst mit dem Problem der Widersprüchlichkeit ihres eigenen Verhaltens konfrontiert: Einerseits wollen und müssen sie die Interessen des Unternehmens umsetzen, und andererseits müssen sie ihre eigenen Interessen wahren. Beides geht jedoch oft nicht – oder nicht mehr – zusammen.

Im zweiten Schritt stellt sich die Frage: Warum sind die Unternehmen gezwungen, die Mechanismen der indirekten Steuerung anzuwenden? Die hier vertretene These lautet: Die neue produktive Kraft der Beschäftigten macht dies erforderlich. Nur wenn die Unternehmen sich dieser Kraft anpassen, können sie auf heutigem Niveau profitabel bleiben. Die neue produktive Kraft besteht darin, dass die Kolleginnen und Kollegen sich heute in ihrer Arbeitstätigkeit mit dem gesellschaftlichen Sinn und der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer eigenen Arbeit auseinandersetzen. Wie stellt sich das dar und welche Auswirkungen hat das? Die Antwort auf diese Frage erfordert eine historische Einordnung der Entwicklung der letzten 50 Jahre und eine Darstellung ihrer Perspektive.[1]

Dieses Buch ist ein Ergebnis gewerkschaftlicher Bildungsarbeit. In den Seminaren der Initiative »Meine Zeit ist mein Leben« wurde der Wunsch von Interessenvertretern und Beschäftigten immer deutlicher, die Formen und Auswirkungen der indirekten Steuerung genauer zu verstehen. Alle Beispiele, die im Folgenden genannt werden, stammen aus diesem Umfeld. Dabei dient der Theorie-Ansatz – sowohl in den Seminaren als auch in diesem Buch – dazu, eine Sprache der Beschäftigten über die Mechanismen der indirekten Steuerung zu erarbeiten. Es kommt daher nicht in erster Linie darauf an, allgemeine Zustimmung zu finden und in diesem Sinne wissenschaftlich zu sein. Es geht vielmehr darum, eine Position aus der Sicht der Beschäftigten zu formulieren, die zur Auseinandersetzung mit der indirekten Steuerung in den Unternehmen befähigt.

Viele Folgen der indirekten Steuerung in Unternehmen zwingen die Beschäftigten, sich mit diesen Mechanismen bewusst auseinanderzusetzen. Neben der Unfähigkeit, die Arbeitszeit im Griff zu behalten, gilt das insbesondere für psychische Belastungen und Burnout. In diesem Sinn kann die Broschüre »Burnout – eine Folge der neuen Organisation der Arbeit« (Siemens/Frenzel 2012) als eine Ergänzung zu diesem Buch angesehen werden. Durch Burnout werden die Folgen der Unbewusstheit der indirekten Steuerung den Beschäftigten als Individuen besonders spürbar und dann auch sichtbar. Die zerstörerische Wirkung von psychischen Belastungen und Burnout für Persönlichkeit und Leben von Menschen, die unter Bedingungen der indirekten Steuerung arbeiten müssen, ist für immer mehr Beschäftigte ein wichtiger Grund, sich mit den hier dargestellten Mechanismen auseinanderzusetzen. Das unternehmerische Wir soll dies erleichtern und dadurch zu einer geistigen Autonomie der Beschäftigten und der gewerkschaftlichen Interessenvertretungen gegenüber den Mechanismen der indirekten Steuerung beitragen.

(Aus: Das unternehmerische Wir, Stephan Siemens mit Martina Frenzel VSA Verlag, November 2014)