Tabuthema Stress in der Arbeit
Tabuthema Stress in der Arbeit
Je mehr die Probleme zunehmen, desto mehr scheint die Bereitschaft, darüber zu sprechen, abzunehmen. Denn ich bin umgeben von Leute, die "es" schaffen, die "es" hinkriegen, oder die jedenfalls erzählen, dass sie "es" schaffen. Nur ich scheine damit Schwierigkeiten zu haben, die Aufgaben zu bewältigen. Höchstens im Einzelgespräch kann ich einräumen, dass ich da Probleme habe. Doch ich muss aufpassen, dass ich mir nicht selber schade. Denn wer Probleme hat, gilt als schwach und wird angegriffen; das Einräumen von Problemen schadet im Gerangel um Projekte, um Einfluss und um die eigene Position im Betrieb und unter den Kolleginnen und Kollegen. Deswegen vertusche ich die Sache am besten. So machen es doch alle, oder jedenfalls viele. Es entsteht ein Klima, in dem die wirkliche Arbeitssituation gar nicht mehr zur Sprache kommt, weil alle sich nur erzählen, wie toll sie "es" hinkriegen.
Dieses Klima, dass alle "es" hinkriegen, verhindert, dass ich mich mit den Anzeichen von Erschöpfung nicht ernsthaft auseinandersetze. Es scheint nur mich zu betreffen. In irgendeiner Weise bin in diesen Fragen unnormal, zu schwach, zu wenig konsequent. Die Anderen schaffen es doch auch. Warum sollte ich "es" nicht hinkriegen? Ich beginne damit, das Problem erst als ein indivduelles Problem von mir zu behandeln.
Ich nehme mir vor, "es" auch hinzukriegen.
Anstatt darüber zu reden, dass mir alles zuviel wird und ich bald nicht mehr kann, nehme ich mir vor, von jetzt an dies und jenes anders zu machen, damit ich "es" besser hinkriege. Damit aber spreche ich nicht über meine Lage, sondern darüber, was ich anders machen sollte, damit auch ich "es" hinbekomme. Aber der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. So ist es auch hier. Wenn ich so handele, dann übersehe ich drei Wirkungen meines Tuns:
1. Ich beteilige mich - ohne es zu wollen - an der Tabuisierung des Themas "Stress bei der Arbeit". Ich wirke für die Anderen in der Weise, als ob ich "es" schaffe. Ich bin für Sie ein Mensch, der denselben Druck verbreitet, den die Anderen auf mich machen. Das Tabu ist nun nicht mehr nur etwas, was außer mir wirksam ist. Im Gegenteil beteilige ich mich plötzlich - ohne es zu wollen - daran, das Tabu aufrecht zu erhalten.
Das ist wieder es ein Prozess der "von selbst" abläuft: Ich spüre, dass ich über meine Erschöpfung nicht sprechen darf, weil ich sonst zusätzliche Schwierigkeiten kriege. Ich ziehe ich in mich selbst zurück und versuche, für mich alleine damit klar zu kommen. Damit werde ich aber selber jemand, der die Fassade aufrecht erhält, dass man "es" eigentlich schaffen müßte. Ich erscheine plötzlich den Kolegeinnne und Kollegen selbst als eine, mit der man nicht über so etwas sprechen kann, oder als einer, der in der Lage ist, das für sich alleine zu schaffen.
2. Ich akzeptiere blind, dass "es" geschafft werden muss, ohne mich mit der Frage zu beschäftigen, was "es" eigentlich ist. Freilich fallen mir im Einzelfall viele Sachen ein, die zu diesem "es" zusammenkomen. Aber das sind in erster Linie Beispiele, die ich mir als Fälle vorstelle. Solche Sätze haben oft die Form: Was soll ich denn machen, wenn zum Beispiel der Kunde... oder der Kollegin ... oder die Unternehmensleitung dies und jenes tun." Aber was das Prinzip ist, das in dem "es" zum Ausdruck kommt, das beschäftigt mich nicht.
3. Die Beschäftigung mit dem Problem des Stress wird zu einer weiteren Anforderung an mich. Ich fühle mich ohnehin an der Grenze der Überforderung, und dann bürde ich es mir dann selbst auf, dieses Problem durch ein verändertes Verhalten - durch gute Vorsätze, die ich nun endlich einmal ernst nehme - zu lösen. Ich trete mir selbst gegenüber als ein Stressmanager oder ine Stressmanagerin, die mir Stress macht, weil ich es nicht hinkriege, mich an das Stressmanagement zu halten. Die Stressspirale setzt sich in den versuch der Stressbewältigung hinein fort.